Tragen aus physiotherapeutischer Sicht

Eine kurze Info vorab: Tragen ist, wie die meisten großen Themen in der Kindererziehung, ein ewiger Diskussionsanstoß. Auch bei den Ärzten und Physiotherapeuten teilen sich die Gemüter. Ich höre nicht selten von Kollegen, die Tragen nur unter sehr begrenzten Umständen empfehlen oder (meiner Meinung nach) in Ermangelung an tiefgründiger Recherche über heutige Tragemöglichkeiten und deren Einfluss auf die kindliche Anatomie, unnötige Zurückhaltung an ratsuchende Eltern herantragen. Erfreulicherweise beziehen jedoch immer mehr Fachspezialisten aus verschiedensten schulmedizinischen Gebieten positive Stellung zum Tragen. Ob namhafte Orthopäden, Verhaltensbiologen, Erzieher, Hebammen, Kinderkrankenpfleger usw., sie helfen dabei das Tragen (erneut!) in unserer Gesellschaft zu verbreiten und Vorurteile abzubauen.

 

Auch ich möchte mein physiotherapeutisches Wissen dazu nutzen, um die positiven Wirkungen des Tragens auf Eltern und Kinder kurz darzustellen und evtl. auftretende Ammenmärchen zu begraben.

Storchenwiege Tragetuch

Trageberatung Schaubild

 

Mama sagt:

„Ich habe das Tragen für mich und meine Tochter entdeckt, weil sie von Geburt an sehr viel Nähe brauchte und ich so das Schöne mit dem Nützlichen verbinden konnte“

 

(Natalie, 1 Tochter, Trageerfahrung mit der Manduca)

 

EXKURS: Der Mensch - ein Tragling

 

In der Biologie unterscheidet man 3 Arten von „Jungentypen“:

 

Nesthocker (z.B. Kaninchen), Nestflüchter (z.B. Rehkitz) und Traglinge (z.B. Primaten). Unter einem Jungentypus versteht man allgemein ein „Jungtier“, welches anatomisch, morphologisch und ethnologisch an eine bestimmte Lebensweise angepasst ist.

 

Der Mensch kann dabei, auch wenn das zunächst seltsam erscheint, dem Typus des Traglings zugeordnet werden. Seine Anpassung an die Umstände des „Getragen werdens“ gehen dabei Millionen von Jahren zurück und zeigen sich u.a. im bekannten, aber nur noch rudimentär erhaltenen Greifreflex der Hände und Füße in den ersten Lebenswochen, einer spezifischen Hüft- und Wirbelsäulenentwicklung sowie der Anpassung des weiblichen Beckens an das seitliche Tragen.

 

Als Wandervolk musste der menschliche Säugling dabei oft große Strecken mit seiner Familie mitgenommen werden, ohne dass man Kinderwagen oder Tragehilfen kannte. Auch bedeutete Tragen evolutionsbiologisch Schutz und Sicherheit vor (Fress-)Feinden oder kalter Witterung.

 

Sesshaft wurde der Mensch im Vergleich dazu erst vor rund 10.000 Jahren. Mit dieser Entwicklung wäre das Tragen im Grunde genommen nicht mehr notwendig gewesen. Dieser verhältnismäßig kurz zurückliegende Zeitrahmen reicht jedoch nicht aus, um genetisch gespeicherte Grundprogramme des Menschen zu verändern. Daraus ergibt sich die Erklärung, wieso Tragen auch heute noch einen großen Stellenwert hat und eigentlich mit „neuzeitlichem Quatsch“ so gar nichts zu tun hat.

 

In vielen Naturvölkern dieser Erde werden Kinder auch heute noch täglich von den Bezugspersonen getragen. Die Erfindung des Kinderwagens und eine sozial gestellte Anforderung an möglich schnell selbständig werdende Kinder ist eine Entwicklung der westlichen „Wohlstandsländer“.